Friedensförderung von Grund auf vorantreiben

Policy Brief 04|21

Viele internationale Organisationen (IOs) haben mit Problemen der lokalen Eigenverantwortung in ihren Friedensprojekten zu kämpfen. Friedensforscher betonen, dass Gemeinschaften Frieden aus eigener Kraft erreichen können. Wir empfehlen den IOs, ihre eigenen Prioritäten zu überdenken und offen für eine Bottom-up-Projektentwicklung zu sein, indem sie:

  • sich eher auf Reflexion als auf schnelle Lösungen konzentrieren. Vor der Konzeption von Projekten mehr Zeit und Energie investieren und regionale Expertenteams einbeziehen, um die lokalen Friedenskapazitäten zu erkunden und zu verstehen.
  • Beziehungen stärken und Vertrauen in der Interaktion mit Gemeinschaften durch Dialog in lokalen Sprachen und gegenseitiges gemeinsames Lernen fördern.
  • respektieren, was die lokale Bevölkerung als legitime und wirksame Konfliktbeilegung akzeptiert, und friedlichen lokalen Akteuren Vorrang einräumen.

Seit vielen Jahren kämpfen Wissenschaftler und Praktiker mit Problemen der lokalen Eigenverantwortung bei der von IOs geleiteten Friedensförderung. Trotz der Diskussionen über die Übertragung von Eigenverantwortung an lokale Gemeinschaften überwiegen in der Praxis Top-down-Ansätze, die oft zu kontraproduktiven Ergebnissen führen. Ethnografische Feldforschung hat gezeigt, dass internationale Organisationen ein besseres Verständnis für die lokalen Erfahrungswerte in Bezug auf Konflikte und Frieden erreichen könnten. Hier zeigen wir auf die wichtigsten Merkmale des lokalen Friedens und schlagen vor, wie internationale Organisationen friedliche lokale Akteure besser einbinden, mit Machtungleichgewichten umgehen und Strategien zur Friedensförderung von Grund auf vorantreiben könnten.

Lokale Gemeinschaften sind nicht per se friedlich. Dennoch sind die Menschen in vielen Gesellschaften in der Lage, mit alltäglichen Spannungen umzugehen, selbst unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen. Sie tun dies, indem sie Konflikte gemäß den kulturellen Überzeugungen und Praktiken ihrer Gemeinschaften vermeiden, beschwichtigen, verhindern und beilegen. Trotz der zunehmenden Globalisierung herrschen in vielen Gesellschaften weltweit weiterhin traditionelle Vorstellungen von Gemeinschaft, Autorität und Geschlechternormen vor. Für die Mitglieder der Gemeinschaft sind diese Überzeugungen selbstverständlich – sie entwickeln sich nur im Laufe von Generationen und können von außen kaum verändert werden. Sie herunterzuspielen oder zu versuchen, sie auszurotten, löst oft nur lokalen Widerstand aus. Kulturelle Überzeugungen beeinflussen, wie Gesellschaften mit Konflikten und Frieden umgehen: Einige Gesellschaften bevorzugen offene Auseinandersetzungen, andere halten Konflikte durch Vermeidung in Schach. Während einige erwarten, dass Polizeibeamte in Streitigkeiten eingreifen, bevorzugen andere eine informelle Konfliktbewältigung durch Verwandtschaftsnetzwerke. Einige Gesellschaften legen in ihrem Verständnis von Frieden Wert auf individuelle Rechte und Gleichheit, während andere sich auf Autorität von oben, Hierarchien und soziale Einheit stützen.

„MENSCHEN IN VIELEN GESELLSCHAFTEN SIND IN DER LAGE, MIT ALLTAGSSPANNUNGEN UMZUGEHEN, SELBST UNTER SCHWIERIGEN SOZIOÖKONOMISCHEN BEDINGUNGEN.“

Um die Herzen und Köpfe der lokalen Bevölkerung zu erreichen, dürfen diejenigen, die eingreifen, kulturelle Überzeugungen und etablierte Traditionen nicht übersehen. Um Friedensprojekte von Grund auf zu entwickeln, müssen die Hauptquartiere und Außenstellen der internationalen Organisationen das traditionelle Wissen der Einheimischen über Frieden besser nutzen. Vor der Konzeption von Projekten sollten regionale Expertenteams sich Zeit nehmen, um unterschiedliche, oft traditionelle, kollektivistische und hierarchische Kontexte zu erforschen, zu übersetzen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Anhand der Ergebnisse können internationale Organisationen frühzeitig erkennen, ob internationale Strategien zur Friedenskonsolidierung an bestimmten Orten akzeptiert werden können oder ob sie als westlich geprägt, bevormundend und respektlos gegenüber lokalen Traditionen angesehen werden. Eine solche Bottom-up-Projektentwicklung erfordert auch, dass internationale Organisationen ihre eigenen normativen und operativen Rahmenbedingungen reflektieren und erkennen, dass liberale Werte, die ihre Strategien weitgehend prägen, kaum von außen aufgezwungen werden können.

Wie im afrikanischen oder nahöstlichen Kontext zeigt auch unsere Forschung in Zentralasien, dass es wichtig ist, sich mit lokalen soziokulturellen Bedeutungen auseinanderzusetzen, um zu verstehen, wie Menschen in bestimmten Regionen die Herausforderungen der Konfliktbeilegung durch alltägliche Praktiken und lokale Institutionen angehen. Zu diesen Praktiken gehören alltägliche Handlungen wie die Kommunikation oder die Fürsorge für andere in der Nachbarschaft. Durch alltägliche Entscheidungen und Handlungen versuchen die Menschen, Spannungen abzubauen, Konflikte zu entschärfen und kreativ zu transformieren. Lokale Institutionen wiederum sind kollektiv anerkannte Organisationen, die die Verteilung von Ressourcen über Kanäle wie Gönner und Nachbarschaftskomitees erleichtern und beispielsweise durch soziale und religiöse Führer normative Orientierung bieten. Trotz ihrer Informalität sind lokale Institutionen von starrem Charakter, da sie sich auf lokale soziale Hierarchien stützen, die auf Verwandtschaft, Geschlecht, Alter und Wohlstand basieren. Ihre Bedeutung zeigt sich in Ausdrucksformen des Respekts, Formen der sozialen Kontrolle, der Dichte der Kommunikation und schließlich in der Konfliktbeilegung. 

Ein Beispiel für solche alltägliche Konfliktprävention betrifft lokale weibliche Führungskräfte in ländlichen Gemeinden Zentralasiens. Während sie sich an traditionelle Geschlechterrollen halten und sich der männlichen Autorität unterordnen, diskutieren sie informell lokale Probleme – beispielsweise unruhige Jugendliche – mit angesehenen männlichen Ältesten und schlagen „hinter den Kulissen“ Lösungen vor. Ihre indirekte Vermittlung ist somit ein Eckpfeiler des lokalen Friedens.
Friedensmissionen können Vertrauen aufbauen und vor Ort mehr Legitimität erlangen, wenn sie die etablierten Methoden der Konfliktbeilegung respektieren und einbeziehen. Da diese Praktiken für Außenstehende nicht leicht zu verstehen sind, benötigen Friedensbeauftragte viel mehr Zeit und weniger Vorgaben, um gemeinsam zu lernen und gegenseitiges Vertrauen mit den lokalen Gemeinschaften aufzubauen. Während unserer Feldforschung in Kirgisistan und Tadschikistan trafen wir viele Mitarbeiter internationaler Organisationen, die zugaben, dass sie viel bessere Arbeit leisten könnten, wenn sie weniger Verwaltungsaufgaben hätten und mehr Zeit für den Aufbau von Beziehungen zu den lokalen Gemeinschaften. Dies zeigt, dass die Verfahren, logischen Rahmenbedingungen und Dienstleistungen von internationalen Organisationen nicht unbedingt ein Rezept für sinnvolle Interaktionen vor Ort liefern.

„FRIEDENSBEAUFTRAGTE BRAUCHEN VIEL MEHR ZEIT UND WENIGER VORGABEN, UM GEMEINSAM ZU LERNEN UND VERTRAUEN ZU DEN LOKALEN GEMEINSCHAFTEN AUFZUBAUEN.“

Die Situation wird noch dadurch erschwert, dass beim Aufbau von Zusammenarbeit und gegenseitigem Verständnis vielfältige Machtfragen eine Rolle spielen. Auf kommunaler Ebene sind Akteure und Institutionen in subtile, informelle Netzwerke eingebettet, in denen die Rollen von Staatsverwaltung, Gönnern, Ältesten und anderen informellen Führern eng miteinander verflochten sind. So kann ein lokaler Gönner gleichzeitig Bürgermeister sein und eine Schulleiterin gleichzeitig Älteste oder informelle Frauenführerin. Mitarbeiter von internationalen Organisationen müssen darauf achten, dass sie nicht als neue Gönner, die finanzielle Ressourcen bereitstellen, in diese Strukturen kooptiert werden. Aktive Verhandlungen über lokal geführte Initiativen und deren Rechenschaftspflicht können dazu beitragen, Machtprobleme zu mildern und gegenseitigen Respekt und Vertrauen zu fördern.

Es gibt noch eine weitere Einschränkung. Bei dem Versuch, lokale Konflikte zu verstehen, stellen Mitarbeiter von internationalen Organisationen oft fest, dass die Ursachen mit einer globalen neoliberalen Wirtschaft zusammenhängen, die in vielen Regionen der Welt Unterentwicklung und lokale Fragmentierung (re-)produziert. Die lokalen Friedenskapazitäten können geschwächt werden, wenn Menschen auf der Suche nach Einkommen und Sicherheit zwischen Orten und über Grenzen hinweg pendeln müssen. Eine verstärkte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Weltanschauungen durch Migration und Online-Kommunikation kann das Wohlbefinden in Gemeinschaften verbessern, aber auch zu Konflikten zwischen traditionellen und modernen Werten führen. Hier müssen internationale Organisationen davon absehen, lokale Gemeinschaften als abgeschottete Traditionsbewahrer zu betrachten, und sich Zeit nehmen, um diese komplexen Dynamiken zu verstehen.

Schließlich sehen sich internationale Beamte mit ihren eigenen Dilemmata konfrontiert. Einerseits haben sie vielleicht die besten Absichten, mit lokalen Akteuren auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Andererseits können sie die Zwänge der Organisationen, die sie vertreten, nicht umgehen, da diese in internationale Machtstrukturen eingebettet sind. Internationale Organisationen sind auf Finanzmittel von Geberstaaten und anderen Dritten angewiesen, deren eigene Interessen oft mit denen der lokalen Gemeinschaften unvereinbar sind.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es nicht einfach ist, die internationale Friedensförderung von Grund auf durch besseres Verständnis, bessere Beziehungen und mehr Respekt voranzubringen. Erstens erfordert dies Offenheit und Engagement sowohl von Seiten der internationalen Organisationen als auch der Gemeinschaften hinsichtlich möglicher Unterschiede zwischen ihren jeweiligen Wertesystemen. Zweitens muss die Friedensförderung sich mit Machtfragen auseinandersetzen. Sowohl lokale als auch internationale Akteure müssen ihre eigenen Positionen kritisch reflektieren und mit mehr Bereitschaft verhandeln, um neue Ebenen der Zusammenarbeit zu erreichen.

Literatur

Kluczewska, Karolina 2019: How to Translate ‘Good Governance’ into Tajik? An American Good Governance Fund and Norm Localisation in Tajikistan, in: Journal of Intervention and Statebuilding, 13: 3, 357–376.

Kreikemeyer, Anna 2020: Lokale Ordnung und Friedensförderung in Kirgisistan: Was können traditionelle Ordnungen leisten?, in: Journal of Intervention and Statebuilding, 14: 4, 501–517.
 

Die Autor:innen

Dr. Anna Kreikemeyer
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Profil ansehen
Karolina Kluczewska
Profil ansehen